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Die Welt, ein virtueller Spaß

Erste Eindrücke von der Weltausstellung in Hannover, die in der nächsten Woche öffnet Expo 2000 Von Karin Nölte

  • Lesedauer: 5 Min.

Nicht mehr einsteigen«, befiehlt der Fahrer der unterirdischen Stadtbahn am Hannoveraner Hauptbahnhof, »da wir im Anderthalb-Minuten- Takt fahren, gibt es sonst ein Chaos«. Leises Stöhnen. »Na gut, steigen Sie ruhig weiter ein, das Chaos ist da.«

Hannover und Chaos - das eine Wort scheint in diesen Tagen, kurz vor der Er Öffnung der Expo am 1. Juni, nicht mehr ohne das andere denkbar. Es ist die ganz normale Panik vor jeder Ausstellung. Überall wird noch gebaut, Handwerker aller Gewerke werkeln ungerührt vor sich hin, Pflastersteine kommen in den Boden, Sägen malträtieren Betonstufen, Liefer wagen wuseln durcheinander, nur an den hölzernen Containern für Tickets, Souvenirs und Cola herrscht Ruhe vor dem Sturm.

Bereit ist das Pressezentrum, das mit 23 000 Journalisten anden 153 Expo-Tagen rechnet. Am Mittwoch, dem »Vorpremierentag« für deutsche Medien, waren es schon unerwartete 1500, am Donnerstag kamen 800 ausländische Kollegen. Empfangsstehtische buhlen um Aufmerk samkeit. In den Pressefächern sind schon Daimler, Siemens und McDonalds präsent, die der Hannoveraner Stadtwerke, des DGB und der DAG gähnen leer. Im Saal 1 spricht Expo-Generalkommissarin Birgit Breuel von der »Werkstatt für das Leben von morgen«, nachdem sie mit Blick auf die Noch-Baustelle das seltsame Bild ersann: »Wir springen vom Trockenschwimmen ins tiefe Nass.«

Zwölf Jahre reifte die erste Expo in ›Deutschland von der Idee zum real existierenden, 160 Hektar großen Gelände mit einer: schier uriüberschaübaren Ansammlung mehr oder minder gelungener architektonischer Gebilde unter einer alles überspannenden Seilbahn. Noch sind die meisten Pavillons genannten Hallen im Inneren Baustellen der Ausstellungsmacher, die sich gern Szenografen, Perfor mer, Choreographen nennen. So sind Inhalte vorerst nichts als Fragezeichen - viele werden es wohl auch bleiben. Die Architektur an sich ist wesentlicher Bestandteil der Ausstellung. Wie in einer Theaterkulisse liegen Monumentales, Beeindruckendes und Kitschiges beieinander wie in den Ländershows Korea und Indien, Lettland und Monaco. Auffallend aus der 0815-Hallenrolle fällt der »T-Digit« der Telekom, ein gläserner Kubus, der auf einer seiner acht Ecken balanciert. »Hoffentlich kriegen sie den noch zurechtgerückt«, meinte ein Journalist. Eine der 16 mal 16 Meter großen Seitenflächen dient als multimediales Endgerät, das die Olympiade und die Tour de France live zeigen soll. Gut vorstellbar, dass sich sommers auf der gegenüberliegenden riesigen Freitreppe das Volk lustvoll ausstrecken wird.

»Herzstück« der Expo Hannover ist der »Themenpark« - in fünf Hallen werden zum Leitmotiv der Gesamtausstellung »Mensch - Natur - Technik« elf Fragen an das Leben in der Zukunft gestellt. Der Anspruch, Lösungsansätzen für Probleme des‹21. Jahrhunderts nachzugehen, hebt sich allerdings schnell in purem Spaß auf. Was bleibt, ist die Informationsgesellschaft. Das Leben als virtuelles Erlebnis. Alles ist Show online. Globalisierer präsentieren ihre Revolution. Visionen sind in Emotionen verpackt. Information stört bei der Interaktion. Etwa zum Thema »Wissen«: Da schweben 72 eierförmige Infoboxen durch den Raum, die mit sich selbst beschäftigt sind. Der Besucher darf, soll sich einmischen, aber wie? Was anfangen mit »nachwachsenden Löffeln« oder »fliegenden Hecken« zum Thema »Umwelt«? Ist es Hilfslosigkeit zum Thema »Zukunft der Arbeit«, wenn 42 Schauspieler »Er werbsbiographien« darstellen? Wenigstens sind es Menschen. Einem Höhepunkt steuert das Theater im »Planet of Visions« zu - der Besucher steigt in einem Krater vom Jahr 2100 hinab zum Heute, vorbei an Ausgrabungsfunden der Zukunft. Die allgegenwärtige Angst vor dem Unbekannten, das kommt, wird durch den Rückblick auf angeblich Vergangenes auf leichte Schultern genommen.

Dass eine Weltausstellung heutzutage nicht mehr wie in ihren Anfängen 1815 der »Crystal Palace« in London oder 1867 der Eiffelturm in Paris als eine Art Volkshochschule das Neueste aus Wissenschaft und Technik der Allgemeinheit nahe bringt, mag dem Scheitern des Fortschrittglaubens zugeschrieben werden. Hannover will deshalb den Menschen ins Blickfeld rücken, nur bleibt der oft im Cyberspace stecken.

»Der Mensch« überwältigt indes im Eingangsbereich des schon fertigen Deutschen Pavillons: »Dichter und Denker« teils im Hollywood-Format. 47 deutsche »Köpfe«, die in Vergangenheit und Gegenwart Positives für dieses Land bewirkt haben, wurden für eine »Ideenwerkstatt Deutschland« auserwählt. Ein Jahr haben die Aussteller sich einen Kopf gemacht,

So wird die auf Gerüsten begehbare Skulpturen-Landschaft das deutsche Feuilleton gewiss in Aufregungen versetzen. Warum ist Steffi Grafs Kopf vier Meter groß, Brechts dagegen muss man suchen. Was hat ein stilisiertes Stück Mauer mit dem Spruch »Alle Macht dem Volke, nicht der SED« zwischen all den Häuptern ver loren. Jürgen Sparwasser und Einstein, Adenauer, Erhard, Brandt und Marlene Dietrich, die Keramikerin Hedwig Bollhagen und die Puppenherstellerin Margarete Steiff, Petra Kelly und Love-Paraden-Vor tänzer Dr. Motte, Die Maus und Nazi-Symbole-Bekämpferin Irmela Schramm, Sigmund Jahn und anonyme Montagsdemonstranten, Beethoven und das Sandmännchen - man ahnt, wie schwer es ist. Positives in Deutschland zusammenzukratzen. So hat dieser deutsche Beitrag unter, de.!)^ Titel »Denken« wenigstens eins^jWitZuflen Beweis für diese These liefert die Begründung für die Wahl von Gerhard Behfitodts Sandmännchen: »Was bleibt vono del“.©DR? Ganz sicher das freundliche1 ?›«Saritfmännchem, das Ger hard Behrendt 19^9 in den sonst eher staatsfeierlicheft Fernsehfunk der DDR geschmuggelt hat. Seit 1992 geht das Männchen vom ORB aus gesamtdeutsche Wege.»

Auch lustig wirkt der zweite Raum «Fühlen». Im «720-Grad»-Kinoformat - viele Leinwände an den Seiten, auf dem Boden, an der Decke, dazu unzählige Monitore - läuft ein sechsminütiger Film: Der Zuschauer, im wahren Leben auf einer von sechs Brücken im Saal stehend, befindet sich in einem Berliner Hinterhof, schaut hinabfahrend in die Fenster, feiert ein Nachbarschaftsfest... Deutschland eine bunte Spielkiste, ein dunkelhäutiger Junge klappt eine Wand auf, späht hinein ... Wasserfälle, bunte Blumen, das Weltall... «Deutschland mittendrin» und «aus dem Bauch heraus» soll gezeigt, er lebt werden. Ein starkes Stück Emotion.

Wenn man so will, wird es im dritten deutschen Bereich «Handeln» erst richtig spaßig. Für ein «Mosaik Deutschland» haben die 16 Bundesländer Unikate der Selbstdarstellung eingereicht. Auftrag war, «Innovations- und Gestaltungskraft» zu beweisen. Wie leicht zu erraten, kam die Hauptstadt Berlin auf nichts anderes als ein Stück Mauer und einen illuminier ten Mini-Reichstag. Auch ein Stück Zugspitze als Beitrag Bayerns wirkt auf den ersten Blick als Verhohnepipelung der Weltshow, aber die Leistung, das 2,5 Tonnen schwere Teil vom Berg ins flache Hannover zu bewegen, kommt dem Expo- Titel «Mensch - Natur - Technik» unglaublich nah. Man muss nur Spaß ver stehen.

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